Herr
W. Y. Evans-Wentz, ein englischer Forscher der Oxford Universität,
kam zu Besuch und brachte ein Empfehlungsschreiben von Herrn Brunton
mit. Er war von der Reise erschöpft und brauchte zunächst Ruhe. Er
ist an die indischen Sitten gewöhnt und ist schon öfter in Indien
gewesen. Er hat Tibetisch gelernt und das Tibetanische Totenbuch,
die Biografie Milarepas, des größten tibetischen Yogi, sowie ein
Buch über die tibetanischen Geheimlehren herausgebracht.
Am
Nachmittag stellte er einige Fragen über Yoga.
Er wollte wissen, ob
es richtig sei, Tiere wie Tiger und Rehe zu töten, um ihr Fell als
Unterlage für die Yogastellung (asana)
zu benutzen.
M.:
»Der Geist ist der Tiger oder das Reh.«
F.:
»Wenn alles eine Illusion ist, dann darf man also töten?«
M.:
»Wer hat die Illusion? Finde das heraus. Tatsächlich ist jeder in
jedem Augenblick seines Lebens ein Mörder des Selbst (atmahan).«
F.:
›Welche Yogastellung ist die beste?‹
M.:
»Jede Stellung, vielleicht sukha
asana
(die leichte oder Halb-Buddha-Stellung). Aber das ist für jnana
(den Weg der Erkenntnis) unwesentlich.«
F.:
»Lässt die Sitzhaltung auf die Veranlagung schließen?›
M.:
»Ja.«
F.:
»Was sind die Eigenschaften und Wirkungen eines Tiger- oder Rehfells
oder von Wolle?«
M.:
»Das wird in Yoga-Büchern beschrieben. Es hat mit der guten oder
schlechten magnetischen Leitfähigkeit usw. zu tun. Aber das alles
ist für den Weg der Erkenntnis (jnana
marga)
bedeutungslos. Die Haltung meint in Wirklichkeit Stand und Festigkeit
im Selbst, und sie ist im Innern. Beim anderen handelt es sich um
äußere Haltungen.«
F.:
»Welche Zeit ist für die Meditation am besten?«
M.:
»Was ist Zeit?«
F.:
»Sag es mir!«
M.:
»Zeit ist lediglich eine Vorstellung. Es gibt nur die Wirklichkeit.
Was immer du glaubst, das sie ist, das scheint sie zu sein. Wenn du
sie Zeit nennst, ist sie Zeit. Wenn du sie Existenz nennst, ist sie
Existenz und so fort. Nachdem du sie Zeit genannt hast, unterteilst
du sie in Tage und Nächte, Monate, Jahre, Stunden, Minuten usw. Zeit
ist für den Weg der Erkenntnis unwesentlich. Aber einige dieser
Regeln und Disziplinen sind für den Anfänger nützlich.«
F.:
»Worin besteht der Pfad der Erkenntnis (jnana marga)?«
M.:
»Die Konzentration des Geistes ist beiden gemein, dem Pfad des
Erkennens und dem des Yoga.
Yoga strebt die Einheit des
Individuums mit dem Ganzen, mit der Wirklichkeit, an. Diese
Wirklichkeit kann nicht neu sein. Sie muss auch jetzt existieren und
sie existiert. Deshalb versucht
man auf dem Pfad der Erkenntnis herauszufinden, wie viyoga
(Trennung) entstanden ist. Die Trennung ist ja nur eine Trennung von
der Wirklichkeit.«
F.:
»Was ist Illusion?«
M.:
»Wer hat die Illusion? Finde das heraus. Dann verschwindet sie.
Immer wollen die Leute wissen, was Illusion ist, und untersuchen
nicht, wer sie hat. Das ist töricht. Illusion ist etwas Äußeres
und Unbekanntes. Aber der Sucher gilt als bekannt und ist im Innern.
Finde heraus, was unmittelbar und vertraut ist, anstatt
herauszufinden, was weit weg und unbekannt ist.«
F.:
»Empfiehlt Bhagavan Europäern eine bestimmte Körperhaltung?«
M.:
»Vielleicht ist es ganz nützlich, eine bestimmte Sitzhaltung
einzunehmen. Doch es muss klar sein, dass das Fehlen von asanas,
festen Zeiten oder etwas von dieser Art die Meditation nicht
verhindert.«
F.:
»Empfiehlt der Maharshi Europäern eine besondere Methode?«
M.:
›Das hängt von der geistigen Fähigkeit des Einzelnen ab. Es gibt
keine starren und festen Regeln.‹«
Herr
Evans-Wentz stellte noch mehrere Fragen, von denen sich die meisten
auf die Yoga-Vorbereitungen bezogen. Der Maharshi beantwortete alle
dahingehend, dass sie Hilfsmittel fürs Yoga seien, das selbst eine
Hilfsmittel für die Selbstverwirklichung, dem Ziel von allem, sei.
F.:
»Ist Arbeit ein Hindernis für die Selbstverwirklichung?«
M.:
»Nein. Für den Verwirklichten ist allein das Selbst die
Wirklichkeit. Die Handlungen gehören lediglich der Welt der
Erscheinungen an. Sie berühren das Selbst nicht. Auch wenn der
Verwirklichte handelt, hat er nicht das Empfinden, ein Handelnder zu
sein. Seine Handlungen geschehen unwillkürlich, und er bleibt ihnen
gegenüber ein Zeuge, ohne ihnen verhaftet zu sein. Sein Handeln
geschieht absichtslos. Auch jemand, der auf dem Weg der Erkenntnis
(jnana) ist, kann üben, während er einer Beschäftigung
nachgeht. Am Beginn kann es für den Anfänger schwierig sein, aber
nach einiger Übung gelingt es, und die Arbeit wird nicht mehr als
Hindernis für die Meditation empfunden.«
F.:
»Worin besteht die Übung?«
M.:
»In der beständigen Suche nach dem ›Ich‹, der Quelle des
individuellen Ich. ›Wer bin ich?‹ – finde das heraus. Das reine
›Ich‹ ist die Wirklichkeit, Sein-Bewusstsein-Seligkeit in seiner
Absolutheit. Wenn man DAS vergisst, entsteht das ganze Elend. Wenn
man DAS festhält, kann das Elend der Person nichts anhaben.«
F.:
»Ist nicht brahmacharya
(Ehelosigkeit) notwendig, um das Selbst zu verwirklichen?«
B.:
»Brahmacharya
bedeutet, in Brahman
zu leben. Es hat nichts mit Ehelosigkeit zu tun, wie es üblicherweise
verstanden wird. Ein wahrer brahmachari
ist
einer, der in Brahman
lebt,
und
in Brahman,
das mit dem Selbst identisch ist, sein Glück findet. Warum sollte er
dann nach anderen Glücksquellen suchen? In Wirklichkeit ist das
Auftauchen aus dem Selbst die Ursache allen Elends.«
F.:
»Ist nicht Ehelosigkeit eine grundlegende Bedingung für den Weg
des Yoga?«
B.:
»Sie ist sicherlich für die Verwirklichung ein Hilfsmittel unter
vielen anderen.«
F.:
»Dann ist sie nicht unbedingt nötig? Kann ein verheirateter Mann
das Selbst verwirklichen?«
B.:
»Selbstverständlich. Es ist eine Frage der geistigen Reife.
Verheiratet oder unverheiratet, man kann das Selbst verwirklichen,
denn das Selbst ist hier und jetzt da. Wenn das nicht der Fall wäre
und es nur durch Anstrengung irgendwann in der Zukunft erlangt
werden könnte, wenn es etwas Neues wäre, das man erwerben müsste,
dann wäre es nicht der Suche wert. Denn was nicht natürlich ist,
kann auch nicht von Dauer sein. Deshalb sage ich, dass das Selbst
hier und jetzt da ist und dass ES allein existiert.«
F.:
»Da Gott in allen Lebewesen wohnt, darf man kein Leben nehmen. Ist
es von der Gesellschaft richtig, einen Mörder hinzurichten? Oder
darf es der Staat? In den christlichen Länder beginnt man, es für
unrecht zu halten.«
M.:
»Was hat den Mörder veranlasst, eine Straftat zu begehen? Dieselbe
Kraft lässt ihm nun die Bestrafung zuteil werden. Die Gesellschaft
oder der Staat sind nur ein Werkzeug in der Hand dieser Kraft. Du
sprichst von einem Leben, das genommen wurde – was aber ist mit den
unzähligen Leben, die der Krieg vernichtet?«
F.:
»Genau. Töten ist in jedem Fall unrecht. Sind Kriege zu
rechtfertigen?«
M.:
»Für den Verwirklichten, demjenigen, der immer im Selbst bleibt,
macht der Verlust eines oder mehrerer oder aller Leben in dieser Welt
oder in allen drei Welten1
keinen Unterschied. Selbst wenn er es wäre, der alle vernichten
würde, könnte keine Sünde eine solch reine Seele berühren.«
Der
Maharshi zitierte aus der Bhagavad Gita Kapitel 18, Vers 17: »Wer
frei von der Vorstellung des Egos ist, wessen Verstand ungebunden
ist, der tötet nicht, selbst wenn er alle Welten vernichtet, noch
ist er an das Resultat seiner Handlungen gebunden.«
F.:
»Wirken sich die Handlungen eines Menschen nicht auf seine
zukünftigen Geburten aus?«
B.:
»Bist du jetzt geboren? Warum denkst du über künftige Geburten
nach? In Wahrheit gibt es weder Geburt noch Tod. Soll der, der
geboren wurde, an den Tod denken und wie er sich Linderung
verschaffen kann.«
F.:
»Wie lange hat der Maharshi gebraucht, um das Selbst zu
verwirklichen?«
B.:
»Diese Frage stellst du, weil du Name und Form wahrnimmst. Diese
Wahrnehmungen ergeben sich aus der Identifikation des Egos mit dem
grobstofflichen Leib.
Wenn
sich das Ego, wie im Traum, mit dem subtilen Geist identifiziert,
dann sind auch die Wahrnehmungen subtil. Aber im Tiefschlaf gibt es
keine Wahrnehmungen. War derweilen das Ich nicht trotzdem da?
Andernfalls könnte es keine Erinnerung geben, geschlafen zu haben.
Wer also hat geschlafen? Du sagst in deinem Schlaf nicht, dass du
schläfst. Du sagst es erst jetzt, im Wachzustand. Deshalb ist das
Ich dasselbe im Wachen, Traum und Tiefschlaf. Finde die Wirklichkeit
hinter diesen Zuständen. Das ist die Wirklichkeit, die ihnen
zugrunde liegt. In diesem Zustand gibt es nur das Sein. Es gibt kein
du, ich oder er, keine Gegenwart, keine Vergangenheit und keine
Zukunft. Dieser Zustand ist jenseits von Raum und Zeit und kann nicht
mit Worten beschrieben werden. Er ist immer da.
Wie
eine Bananenstaude Schösslinge aus den Wurzeln treibt, bevor sie
Früchte trägt und abstirbt, und die Schösslinge dasselbe tun,
nachdem sie eingepflanzt wurden, so hat auch der ursprüngliche alte
Meister (Dakshinamurti),
der die Zweifel seiner Rishis-Schüler
in Schweigen klärte, Schösslinge hinterlassen, die sich beständig
vermehren. Der Guru ist ein Spross von Dakshinamurti.
Die Frage taucht nicht auf, wenn das Selbst verwirklicht ist.«
F.:
»Erfährt der Maharshi nirvikalpa
samadhi?«
M.:
»Wenn die Augen geschlossen sind, ist es nirvikalpa,
wenn sie offen sind, ist es savikalpa,
in dem es zwar Unterschiede, aber völlige Ruhe gibt.
Der stets gegenwärtige Zustand ist der natürliche Zustand von
sahaja.«
1die
Welt der Götter, die der Menschen und die der Unterwelt
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen