Freitag, 2. November 2012

Talk 16, 19.1.1935

Herr Douglas Ainslie (Grant Duff), ein 70jähriger englischer Aristokrat und Neffe eines früheren Gouverneurs von Madras, Schriftsteller und Dichter, ehemaliges Mitglied der britischen Botschaften in Athen, Paris und Den Haag, war als Gast der Regierung nach Madras gekommen. Mit einem Empfehlungsschreiben von Paul Brunton besuchte er den Maharshi. Am nächsten Tag kam er wieder und blieb fast eine Stunde in der Halle. Beide Male wurde so gut wie nichts gesprochen, aber die Blicke trafen sich.
Herr Ainslie lebt sehr bescheiden. Er nimmt bis zum Mittagessen um 1 Uhr nichts zu sich. Seine Abendmahlzeit soll nur aus Kaffee und Keksen bestehen, und er geht, ohne noch etwas zu essen, schlafen. Er ist sein Leben lang unverheiratet geblieben. Er wandert jeden Morgen mit nüchternem Magen einige Kilometer, spricht wenig, und seine Bewegungen sind sehr anmutig. Seine Stimme ist tief und leise, und was er sagt, kommt von Herzen. Zu seinen Freunden zählt der späte Sir John Woodroffe, Sir Sarvepalli Radhakrishnan und Professor Thomas, Sanskrit-Professor an der Oxford-Universität. Herr Ainslie äußerte den Wunsch, die Veden rezitiert zu hören.
Am Montag traf ein Brief aus Riga ein mit Fragen, die bereits Herr Ainslie gestellt hatte. Es handelte sich um die Existenz der Verstorbenen und wie man ihnen am besten dienen könne. Die Antwort, die nach Riga geschickt werden sollte, wurde ihm vorgelesen. Dann wurden Tamil-Lieder aus Maharshis ›Truth Revealed‹ und aus den Veden vorgetragen. Herr Ainslie fand die Rezitation großartig.
Am folgenden Nachmittag kam er wieder und erzählte dem Maharshi zum Erstaunen der anderen von einem Erlebnis der vergangenen Nacht. Er hatte etwas wie ein elektrisches Licht in seinem rechten Herzzentrum wahrgenommen. Er fügte hinzu, er habe die Sonne in seinem Inneren scheinen sehen. Der Maharshi lächelte nur und ließ ihm eine Übersetzung von Atmavidya (Selbsterkenntnis) vorlesen, in der es geheimnisvoll heißt, dass die Verwirklichung darin bestünde, das Selbst (atman) zu erreichen, das die Ausweitung des reinen Bewusstseins (chidvyoman) im Unterschied zur Ausweitung des individuellen Geistes (chittayyoman) sei. Diese Erklärung sagte ihm zu.
Als man später über Herrn Ainslie sprach, meinte der Maharshi: »Denkt an einen 70jährigen, der sich nicht dafür entschieden hat, friedvoll zuhause von seinem Vermögen zu leben. Wie tief muss sein Verlangen gewesen sein, dass er sein Heimatland verließ, eine Seereise von 6.000 Meilen wagte und die Entbehrung von langen Eisenbahnfahrten in einem fremden Land nicht scheute, ohne dessen Sprache zu kennen, den Wechselfällen eines einsamen Lebens und der Unbarmherzigkeit eines heißen Klimas ausgesetzt, in einer Umgebung, die ihm unangemessen und ungewohnt ist. Er hätte glücklich zuhause bleiben können, aber sein Sehnen nach innerem Frieden hat ihn hergebracht.«
Genau! Die Leute sagen, dass sich sein intensives Verlangen in seinem Erleuchtungserlebnis, das er vier Tage nach seiner Ankunft hier gehabt hatte, gezeigt hätte.
Die Fragen über die Toten wurden dahingehend beantwortet: Solange sich ein Mensch mit seinem grobstofflichen Körper identifiziert, müssen auch die Gedanken, die sich als grobstoffliche Erscheinungen materialisieren, für ihn wahr sein. Da er sich vorstellt, dass sein Körper von einem anderen physischen Lebewesen abstammt, ist der andere Körper für ihn so wirklich wie sein eigener. Da er hier einmal existiert hat, überlebt er auch den Tod, da sein Nachkomme immer noch da ist und glaubt, vom anderen geboren worden zu sein. Unter diesen Umständen betrachtet ist die andere Welt wahr, und den Toten kommen die Gebete zugute, die für sie verrichtet werden.
Wenn man es aber anders betrachtet, ist die eine Wirklichkeit das Selbst, aus dem das Ego gekommen ist, das die Samen der Veranlagungen aus früheren Geburten in sich trägt. Das Selbst erleuchtet das Ego, die Veranlagungen und auch die Sinne, worauf die Veranlagungen den Sinnen als das Universum erscheint und für das Ego, der Reflexion des Selbst, greifbar werden. Das Ego identifiziert sich mit dem Körper und verliert dadurch das Selbst aus seinem Blick. Das Ergebnis dieser Unachtsamkeit ist tiefes Nicht-Wissen und das Elend des gegenwärtigen Lebens. Die Tatsache, dass das Ego aus dem Selbst kommt und es vergisst, ist die Geburt. In diesem Sinne kann man sagen, dass die Geburt des Individuums die Mutter [i.e. das Selbst] getötet hat. Das Verlangen, seine Mutter wiederzubekommen, ist in Wirklichkeit das Verlangen, das Selbst wiederzugewinnen und bedeutet dasselbe wie Selbstverwirklichung oder der Tod des Egos. Das ist die Hingabe an die Mutter, so dass sie ewig lebt.
Dann las der Maharshi die Geschichte von Deerga Tapasi aus der tamilischen Version des Yoga Vasishta vor. Deerga Tapasi hatte zwei Söhne, Punya und Papa. Nach dem Tod der Eltern trauerte der Jüngere über den Verlust. Sein ältere Bruder tröstete ihn mit folgenden Worten: »Warum betrauerst du den Verlust unserer Eltern? Ich will dir sagen, wo sie sind. Sie sind nur in uns. Wir sind sie. Denn der Lebensstrom ist durch unzählige Verkörperungen, Geburten und Tode, Freuden und Leiden hindurchgegangen, wie das Wasser eines Flusses auf seinem Weg über Felsen, Gruben, Sand, Erhebungen und Senkungen fließt. Aber der Fluss bleibt davon unberührt. Die Freuden und Leiden, Geburten und Tode sind in der Fata Morgana des Egos wie die Wellen auf einer vorgespiegelten Wasseroberfläche. Die einzige Wirklichkeit ist das Selbst, aus dem das Ego auftaucht und durch Gedanken fließt, die sich als das Universum manifestieren, in dem Mütter und Väter, Freunde und Verwandte erscheinen und wieder verschwinden. Sie sind nur Manifestationen des Selbst. Deshalb sind unsere Eltern nicht außerhalb des Selbst, und es gibt keinen Grund zu trauern. Lerne das, verwirkliche es und sei glücklich.«

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