Bei
einem früheren Anlass fragte B.V. Narasimha Swami, der Autor von
›Self-Realization‹: »Wer bin ich? Wie kann man das
herausfinden?«
M.:
»Stelle dir selbst die Frage. Der Körper (annamaya kosa) und
seine Funktionen sind nicht ›ich‹. Gehe tiefer. Der Geist
(manomaya kosa) und seine Funktionen sind nicht ›ich‹. Der
nächste Schritt führt zu der Frage: ›Woher kommen überhaupt die
Gedanken?‹ Die Gedanken sind unwillkürlich, oberflächlich oder
analytisch. Sie arbeiten im Verstand. Wer aber ist sich ihrer
bewusst? Das Vorhandensein von Gedanken, deren klare Begriffe und
Wirkungsweisen zeigen sich dem Individuum. Diese Analyse führt also
zu der Schlussfolgerung, dass die Individualität der Person als
Empfänger des Vorhandenseins von Gedanken und Gedankenfolgen wirkt.
Diese Individualität ist das Ego oder Ich, wie die Leute es nennen.
Vijnanamaya kosa (der Intellekt) ist nur die Hülle des Ich
und nicht das Ich selbst.
Forscht
man weiter, dann stellt sich die Frage: ›Wer ist dieses Ich? Woher
kommt es?‹ Das Ich war im Tiefschlaf nicht bewusst. Wenn es
auftaucht, wechselt der Tiefschlaf zum Traum oder zum Wachzustand
über. Aber im Augenblick träume ich nicht. Wer bin ich jetzt, im
Wachzustand? Wenn das Ich aus dem Schlaf hervorgeht, dann war es
zuvor von Unwissenheit bedeckt. Solch ein unwissendes Ich kann nicht
das Ich sein, das die Schriften und die Weisen meinen. Ich bin selbst
jenseits des Tiefschlafs. Mein wahres Ich muss hier und jetzt sein
und auch was ich im Tiefschlaf und im Traum gewesen bin, unberührt
von den Eigenschaften dieser Zustände. Ich muss deshalb das
eigenschaftslose Substrat sein, auf das diese drei Zustände basieren
(und das auch anandamaya kosa überschreitet). Kurz gesagt,
das wahre Ich ist jenseits der fünf Hüllen1.
Das, was zurückbleibt, nachdem man alles, was Nicht-Selbst ist,
verworfen hat, ist das Selbst, Sat-Chit-Ananda.«
F.:
»Wie kann man dieses Selbst kennen oder verwirklichen?«
M.:
Ȇberschreite die jetzige relative Ebene. Ein getrenntes Sein (Ich)
taucht auf, um etwas von sich selbst Getrenntes (das Nicht-Selbst) zu
erkennen. Das heißt, das Subjekt ist sich des Objektes bewusst. Der
Seher ist drik (das
Subjekt), das Gesehene ist drisya
(das
Objekt).
Es
muss eine Einheit geben, die beidem zugrunde liegt und sich als Ego
erhebt. Dieses Ich ist seinem Wesen nach chit
(Intelligenz, Bewusstsein). Das unbewusste Objekt (achit)
ist nur eine Negation von chit.
Deshalb gehört die zugrunde liegende Essenz dem Subjekt an und nicht
dem Objekt. Sucht man den Seher (drik),
bis alles Gesehene (drisya)
verschwunden ist, wird der Seher immer subtiler, bis nur noch der
vollkommene Seher
überlebt. Dieser Prozess heißt drisya
vilaya, das Verschwinden der
objektiven Welt.«
F.:
»Warum müssen die Objekte (drishya)
beseitigt werden? Kann man die Wahrheit nicht verwirklichen, auch
wenn das Gesehene bleibt, wie es ist?«
M.:
»Nein. Die Beseitigung von drisya
bedeutet die Beseitigung der getrennten Wesenheiten von Subjekt und
Objekt. Das Objekt ist unwirklich. Alles Gesehene
(das Ego inbegriffen) ist das Objekt. Vernichtet man das Unwirkliche,
dann überlebt das Wirkliche. Wenn man ein Seil für eine Schlange
hält, genügt es, die falsche Wahrnehmung von einer Schlange zu
beseitigen, damit die Wahrheit ans Licht kommt. Ohne solch eine
Beseitigung wird sich die Wahrheit nicht zeigen.«
F.:
»Wann und wie kann man das Verschwinden der objektiven Welt (drisya
vilaya) bewirken?«
M.:
»Es ist erreicht, wenn das relative Subjekt, nämlich der Geist,
beseitigt wird. Der Geist ist der Schöpfer von Subjekt und Objekt
und die Ursache der dualistischen Vorstellung. Deshalb ist er die
Ursache für die falsche Wahrnehmung eines begrenzten Selbst und für
das Elend, das die Folge eines solchen Irrtums ist.«
F.:
»Was ist dieser Geist?«
M.:
»Der Geist ist eine Form der Manifestation des Lebens. Ein Holzklotz
oder eine komplizierte Maschine nennt man nicht Geist. Die vitale
Kraft manifestiert sich als Lebensaktivität und auch als das
bewusste Phänomen, das wir Geist nennen.«
F.:
»Wie ist die Beziehung zwischen Geist und Objekt? Tritt der Geist
mit etwas in Kontakt, das von ihm verschieden ist, wie etwa die
Welt?«
M.:
»Die Welt wird im Wachzustand und im Traum empfunden bzw. ist das
Objekt der Wahrnehmung und des Denkens, die beide mentale Aktivitäten
sind. Gäbe es keine solchen Aktivitäten wie Wach- und
Traumgedanken, dann gäbe es auch keine Wahrnehmung und man würde
nicht folgern, dass es eine Welt gibt. Im Tiefschlaf gibt es keine
solche Aktivität. Somit existieren die Objekte und die Welt für uns
währenddessen nicht. Deshalb kann die Wirklichkeit der Welt nur vom
Ego erschaffen worden sein, indem es sich aus dem Schlaf erhebt.
Diese Wirklichkeit wird verschlungen oder verschwindet wieder, wenn
die Seele ihre Natur im Tiefschlaf wiedergewinnt. Das Auftauchen und
Verschwinden der Welt ist ein Vorgang wie bei der Spinne, die ein
hauchdünnes Netz spinnt und es dann wieder in sich hineinzieht.
Unsere Spinne hier liegt den drei Zuständen von Wachen, Träumen und
Tiefschlaf zugrunde. Sie wird in Bezug auf die Person Atman
(Selbst) genannt, während sie in Bezug auf die Welt (von der man
glaubt, dass sie von der Sonne entspringt) Brahman
(höchster Geist) genannt wird. Das Selbst im Menschen ist dasselbe
Selbst wie das in der Sonne. (Sa
yaschayam purushe yaschasavaditye sa ekah: Dies hier in der Person
und dies dort in der Sonne sind eins.)
Solange
das Selbst oder der Geist nicht manifest und inaktiv ist, gibt es
keine Zweiheit im relativen Bereich wie Subjekt und Objekt, drik
und drisya.
Wird die Ergründung bis in die letzte Ursache der Manifestation des
Geistes vorangetrieben, so stellt sich heraus, dass der Geist nur
eine Manifestation des Wirklichen ist, das man Atman
oder Brahman
nennt. Den Geist nennt man sukshma
sarira
oder Gedankenkörper, die individuelle Seele nennt man jiva.
Der jiva
ist die Essenz der gewachsenen Individualität, die Persönlichkeit. Denken und Geist gelten als ihre
Entwicklungsstufe oder einer der Wege, in der sich der jiva
manifestiert. Das vegetative Leben ist eine frühere
Entwicklungsstufe solch einer Manifestation. Der Geist bezieht sich
immer auf etwas oder wirkt auf etwas ein, das nicht-mental, also
materiell ist, aber niemals auf sich. Deshalb existieren Geist und
Materie miteinander.«
1Nach
der indischen Auffassung gibt es drei Körper: den grobstofflichen
der äußeren Erscheinung, den subtilen als Träger der
Eigenschaften und der geistigen Tätigkeiten und den ursächlichen
im Tiefschlaf. Eine andere Aufteilung spricht von fünf Hüllen
(koshas).
Sie sind: die physische Hülle der äußeren Erscheinung (annnamaya
kosha), die mentale
Hülle aus wahllosem Wahrnehmen und Empfinden (manomaya
kosha), die Hülle
der Lebenskraft und der Vitalfunktionen (pranamaya
kosha), die Hülle
des Wissens und der Erfahrung (vijnanamaya
kosa)
sowie die
Hülle der Seligkeit, wie im Tiefschlaf (anandamaya
kosa).
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