Freitag, 9. November 2012

Talk 20, 30.1.935

Herr Evans-Wentz: »Ist Einsamkeit für einen Jnani notwendig?«
M.: »Einsamkeit ist im Geist des Menschen. Ein Mensch kann im Dickicht der Welt leben und gelassen bleiben. So jemand ist einsam. Ein anderer mag im Wald leben, doch unfähig sein, seinen Geist zu kontrollieren. Von ihm kann man nicht sagen, dass er einsam sei. Einsamkeit ist eine Geisteshaltung. Ein Mensch, der an seinen Wünschen hängt, kann nicht einsam sein, wo immer er auch sein mag. Ein losgelöster Mensch ist immer einsam.«
F.: »Man kann also ohne Wünsche seine Arbeit tun und die Einsamkeit beibehalten. Ist es so?«
M.: »Ja. Arbeit, die man mit Anhaftung erfüllt, ist eine Fessel, während Arbeit ohne Anhaftung den Handelnden nicht berührt. Er ist selbst während der Arbeit einsam.«
F.: »Es soll in Tibet viele Heilige geben, die einsam leben und trotzdem für die Welt von großem Nutzen sind. Wie ist das möglich?«
M.: »Es ist möglich. Die Selbstverwirklichung ist die größte Hilfe, die der Menschheit zuteil werden kann. Deshalb heißt es, dass die Heiligen helfen, obwohl sie in den Wäldern bleiben. Man sollte aber dabei nicht vergessen, dass es Einsamkeit nicht nur in den Wäldern gibt. Man kann sie auch in den Städten, inmitten weltlicher Beschäftigung haben.«
F.: »Müssen sich die Heiligen nicht unter die Leute begeben, um ihnen zu helfen?«
M.: »Nur das Selbst ist die Wirklichkeit. Die Welt und alles Übrige sind es nicht. Der Verwirklichte sieht die Welt nicht als von sich selbst verschieden.«
F.: »Bedeutet das, dass die Verwirklichung eines Menschen die Menschheit erbaut, ohne dass sie sich dessen bewusst ist?«
M.: »Ja. Die Hilfe geschieht unmerklich, ist aber trotzdem da. Ein Verwirklichter hilft der ganzen Menschheit, ohne dass sie es weiß.«
F.: »Wäre es nicht besser, wenn er unter die anderen Menschen ginge?«
M.: »Es gibt keine anderen, unter die er gehen könnte. Das Selbst ist die eine und einzige Wirklichkeit.«
F.: »Wenn es hundert selbstverwirklichte Menschen gäbe, wäre das nicht zum besseren Wohl der Welt?«
M.: »Wenn du ›Selbst‹ sagst, dann beziehst du dich auf das Unbegrenzte. Aber wenn du ›Menschen‹ hinzufügst, dann begrenzt du die Bedeutung. Es gibt nur ein unendliches Selbst.«
F.: »Ja, ich verstehe. Sri Krishna sagt in der Gita, dass man die Arbeit ohne Anhaftung tun müsse und dass solche Arbeit besser als Nichtstun sei. Ist damit karma yoga gemeint?«
M.: »Was gesagt wurde, entspricht der Veranlagung des Zuhörers.«
F.: »In Europa verstehen die Leute nicht, dass ein Mensch, der in Einsamkeit lebt, hilfreich sein kann. Sie glauben, dass nur Menschen, die in der Welt wirken, nützlich sind. Wann wird dieser Irrtum enden? Wird der europäische Geist weiterhin im Morast waten oder die Wahrheit erkennen?«
M.: »Sorge dich nicht um Europa oder Amerika. Wo sind diese Länder außer in deinem Geist? Verwirkliche dein Selbst, dann ist alles verwirklicht. Wenn du von Menschen träumst und dann aufwachst und dich an deinen Traum erinnerst, versuchst du dann festzustellen, ob die Personen in deiner Traumschöpfung auch wach sind?«
F.: »Was denkt der Maharshi über die Theorie der Welt-Illusion (maya)?«
M.: »Was ist maya? Sie ist nur Wirklichkeit.«
F.: »Bedeutet maya nicht Illusion?«
M.: »Der Ausdruck ›maya‹ wird benutzt, um die Manifestationen der Wirklichkeit zu bezeichnen. Deshalb ist maya nur die Wirklichkeit.«
F.: »Manche Leute behaupten, Shankara sei nur ein Intellektueller, aber kein Verwirklichter gewesen. Stimmt das?«
M.: »Warum kümmerst du dich um Shankara? Verwirkliche dein eigenes Selbst. Andere können für sich selbst sorgen.«
F.: »Jesus Christus heilte Kranke. Geschah das nur durch okkulte Kraft (siddhi)?«
M.: »War sich Jesus bewusst, dass er Kranke heilte? Er konnte sich seiner Kräfte nicht bewusst gewesen sein. Dazu gibt es folgende Geschichte: Jesus hatte einst einen Blinden geheilt. Der Mann wurde im Lauf der Zeit immer böser. Als Jesus ihm nach einigen Jahren wieder begegnete und seine Bosheit sah, fragte er ihn nach dem Grund. Er antwortete, dass er, als er blind gewesen sei, keine Sünden hätte begehen können. Aber nachdem Jesus ihn von seiner Blindheit geheilt habe, sei er böse geworden. Also sei Jesus dafür verantwortlich.«
F.: »War Jesus nicht ein Vollkommener, der okkulte Kräfte (siddhis) besaß?«
M.: »Er konnte sich seiner Kräfte (siddhis) nicht bewusst gewesen sein.«
F.: »Ist es nicht gut, solche Kräfte wie Telepathie und dergleichen zu erlangen?«
M.: »Telepathie sowie das Radio ermöglichen einem, etwas von fern zu sehen und zu hören. Es ist immer dasselbe Sehen und Hören. Ob man etwas von Nahem oder Fernem hört, macht für das Hören keinen Unterschied. Der grundlegende Faktor ist der Hörende, das Subjekt. Ohne den Hörenden oder Sehenden kann es kein Hören oder Sehen geben. Letzteres sind Funktionen des Geistes. Deshalb gehören die okkulten Kräfte (siddhis) nur zum Geist, nicht zum Selbst. Was aber nicht natürlich ist, sondern erworben wurde, kann nicht von Dauer sein und ist nicht wert, dass man danach strebt.
Okkulte Kräfte sind über das Normale hinausgehende Kräfte. Der Mensch besitzt begrenzte Kräfte und fühlt sich elend. Er möchte seine Kräfte ausweiten, um glücklich zu sein. Aber wird er das dadurch? Wenn man sich schon mit begrenztem Wahrnehmungsvermögen elend fühlt, dann muss das Elend mit zunehmendem Wahrnehmungsvermögen wachsen. Okkulte Kräfte machen niemand glücklich, sondern nur elender!
Im Übrigen: Wozu? Der Möchtegern-Okkultist (siddha) will seine siddhis zur Schau stellen, damit die anderen ihn anerkennen. Er sucht Anerkennung, und wenn sie sich nicht einstellt, ist er unglücklich. Er braucht andere, die ihn anerkennen. Womöglich trifft er auf jemanden, der noch größere Kräfte als er besitzt. Das wird ihn eifersüchtig und noch unglücklicher machen. Der bessere Okkultist (siddha) kann jemanden treffen, der noch besser ist als er, und so geht es weiter, bis einer kommt, der alles im Nu beiseite fegt. Dies ist der höchste Meister (siddha), und Er ist Gott oder das Selbst.
Worin besteht wahre Kraft? Darin, seinen Besitz zu vermehren oder Frieden zu bringen? Was Frieden bringt, ist die höchste Vollkommenheit (siddhi).«
F.: »Aber der europäische und amerikanische Durchschnittsmensch würde eine solche Haltung nicht anerkennen. Er will etwas zu sehen bekommen, durch Vorträge unterrichtet werden usw.«
M.: »Vorträge können die Menschen für einige Stunden unterhalten, ohne sie zu bessern. Schweigen ist dagegen dauerhaft und kommt der ganzen Menschheit zugute.«
F.: »Schweigen wird aber nicht verstanden.«
M.: »Das macht nichts. Mit Schweigen ist Beredsamkeit gemeint. Belehrungen mit Worten sind nicht so beredsam wie Schweigen. Schweigen ist dauerhafte Beredsamkeit. Der ursprüngliche Meister Dakshinamurti ist dafür das Vorbild. Er lehrte seine rishi-Schüler durch Schweigen.«
F.: »Aber Er hatte damals Schüler. Da war das in Ordnung. Jetzt ist es anders. Man muss sie aufsuchen, um ihnen zu helfen.«
M.: »Diese Ansicht ist ein Zeichen von Unwissenheit. Die Kraft, die dich erschaffen hat, hat auch die Welt erschaffen. Wenn sie sich um dich kümmern kann, dann kann sie sich auch um die Welt kümmern.«
F.: »Wie denkt Bhagavan über die verlorene Seelen, von denen Jesus Christus sprach?«
M.: »Überlege, was verloren gehen kann. Gibt es überhaupt etwas zu verlieren? Was zählt, ist nur das, was natürlich ist. Es muss ewig sein und kann nicht erfahren werden. Was geboren wurde, muss sterben. Was erlangt wurde, muss verloren gehen. Aber wurdest du geboren? Du existierst immer. Das Selbst kann niemals verloren gehen.«
F.: »Buddha rät zum achtfachen Weg als dem besten, damit niemand verloren gehen möge.«
M.: »Ja. Er wird von den Hindus Raja Yoga genannt
F.: »Ist es für einen spirituell Suchenden ratsam, Yoga zu üben?«
M.: »Yoga hilft, den Geist zu kontrollieren.«
F.: »Führt Yoga nicht zu okkulten Kräften (siddhis), die gefährlich sein sollen.«
M.: »Du hast deine Frage auf den spirituell Suchenden bezogen. Du hast also nicht den, der nach okkulten Kräften (siddhis) sucht, gemeint.«

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen